Streit
Die Dynamik von Konflikten: Wie Missverständnisse eskalieren und Deeskalation gelingen kan
In einem Streit werden wir mit einer anderen Sichtweise konfrontiert. Vermutlich hat jeder schon die Erfahrung gemacht, dass ein Streit meist im Kleinen beginnt. Am Anfang steht oft ein Missverständnis; ein Wort ergibt das andere, und der Streit wächst sich aus. Was genau passiert dabei eigentlich?
Beispiel:
„Warum sagst du nichts, passt dir etwas nicht?“
Antwort: „Alles gut.“
Reaktion: „Du brauchst nicht gleich so patzig zu antworten.“
Was passiert hier? Auf der Sachebene hat Person A die Vermutung, dass Person B etwas nicht passt. Person B verneint dies, sodass nun alles wieder gut sein müsste. Allerdings weiß Person A – oder glaubt zu wissen –, dass mit Person B wirklich etwas nicht stimmt, sodass die beschwichtigende Antwort nicht für bare Münze genommen werden kann. Da nach Person A’s Meinung Person B missgestimmt ist, wird eine patzige Antwort als sehr wahrscheinlich angesehen und Person B’s Antwort in diesem Sinne interpretiert.
Gut möglich, dass Person B tatsächlich missgestimmt ist und lediglich nicht mit der Wahrheit herausgerückt ist. Dass bei der Kommunikation wesentlich mehr ausgetauscht wird als der sachliche Inhalt der formulierten Sätze, ist kein neuer Gedanke. Versucht man im weiteren Verlauf des Streits aufzudecken, wie es zu dem Streit und seiner Eskalation kam und wer die Schuld an der Entgleisung trägt, wird man die gefallenen Sätze – sofern noch erinnerlich – als Indizien heranziehen wollen.
„Ich hab dich doch nur gefragt, ob es dir gut geht.“ Niemand würde sagen: „Ich hab dich doch in leicht genervtem Unterton gefragt, ob es dir gut geht.“ Das heißt, die Worte werden als Beweis angeführt, aber nur die Worte – nicht das, was mitschwingt. Das ist schließlich die freie Interpretation des Empfängers. Der Ton, wie etwas gesagt wurde, ist schwerlich rekonstruierbar. Häufig sind die Eskalationsstufen im Nachhinein kaum erkennbar. Mit jedem gesprochenen Wort und jeder Erwiderung kommt es zu einer leichten Steigerung bis zum ausgewachsenen Streit. Jeder gesprochene Satz wird vom Sender eine Spur schärfer formuliert oder betont, als angemessen wäre, und vom Empfänger eine Nuance zu negativ überinterpretiert. Der Kontext der Situation ist der Dirigent dieses Konzerts.
Der Streitende reagiert nicht auf die Worte seines Gegenübers, sondern auf die empfangene Botschaft. Diese ist allerdings stark beeinflusst von der jeweiligen Situation und der Erwartungshaltung an den Sender. Kann ich davon ausgehen, dass mein Gegenüber mir wohlgesonnen ist, werde ich weniger dazu tendieren, patzige Untertöne zu hören. Weiß ich aber, dass er mir Übles will, wird mich jeder noch so harmlose Satz als Angriff erreichen. Je länger ein Streit dauert und je heißer dabei gekocht wird, desto mehr verwandelt sich mein Gegenüber in meinen Feind. Damit schwindet zunehmend meine Möglichkeit, seine Worte positiv zu werten. Lediglich ganz am Anfang habe ich die Möglichkeit, den Brand zu riechen. Wenn ich jetzt nicht die Tür zum Notausgang nutze, werde ich sie im dichten Qualm des lodernden Streits vermutlich nicht mehr finden.
Was bleibt mir aber, wenn ich diese Chance bereits verpasst habe? Wenn der Qualm bereits sehr dicht ist und ein verlustloses Herausschlüpfen aus der Situation unmöglich geworden ist? Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass der andere ebenso wie man selbst manipulierte Botschaften empfängt – manipuliert von der Situation, die man selbst mitgeschaffen hat. Es wäre nun höchste Zeit, zu deeskalieren, wenn man dazu noch in der Lage ist. Jeglicher Versuch der eigenen Rechtfertigung sollte nun unterbleiben, da er vermutlich als erneuter Angriff interpretiert würde. Nur ein aufrichtiges Angebot, unter gänzlich neutralem Tonfall und Loslassen von der Streitthematik, ist erfolgversprechend. Vielleicht ein vorsichtiger Hinweis auf die eigentlich positive Beziehung zwischen dem Streitpartner und einem selbst.
Bei dieser Vollbremsung ist es durchaus denkbar, dass der andere nicht gleich mitbremst. Vielleicht nutzt er sogar die Gelegenheit, noch einmal argumentativ Gas zu geben. Schnell wird jetzt die innere Stimme lauter, die einem schon die ganze Zeit sagt, dass der andere unbelehrbar ist. Dieser Stimme zu folgen, läutet dann die nächste Runde des Streits ein.