Selbstüberhöhung
600 Worte zuviel über ein Popidol
Ich bin mit klassischer Musik aufgezogen worden. Unsere große Altbauwohnung in Hamburg-Eppendorf war stets von den Werken barocker Komponisten erfüllt. Bach, Händel, Telemann sind mir quasi eingeimpft worden. Erst auf dem Gymnasium, als der individuelle Musikgeschmack eine unverzichtbare Requisite der eigenen Persönlichkeitsdarstellung wurde, kam ich mit moderner Musik in Berührung. Mit schlechtem Gewissen begann also auch ich, eine Kassettensammlung anzulegen mit Alben von Pink Floyd, Tom Waits, den Beatles und anderen mehr oder weniger aktuellen Bands. Schon bald radikalisierte sich mein Musikgeschmack hin zu musikalischen Genres wie Grunge, Hardcore und Hardrock. Unnachgiebig hätte ich damals diskutiert, dass entsprechende Stücke auf Augenhöhe mit Werken wie der neunten Sinfonie von Beethoven, dem musikalischen Opfer von Bach oder seiner Matthäuspassion verglichen werden müssten.
Nun bin ich 50, habe mich einige Jahre mit Blues und Jazz beschäftigt und höre die in die Jahre gekommenen Bands höchstens noch in süßer Erinnerung an frühere Zeiten und Gefühle. Nun kommt doch tatsächlich mein Sohn und will mir erzählen, dass ein Lied eines aktuellen Pop-Idols auf eine Stufe mit Bachs Solosuiten für Cello gestellt werden müsste. Schließlich würde besagter Sänger wesentlich mehr Zuhörer um den Verstand bringen als Johann Sebastian Bach. Völliger Quatsch, habe ich ihm gesagt. Aber was ist wahr? Ich bin mir sicher, dass diese Diskussion schon in vielen Haushalten geführt wurde.
Was ist gute Musik? Vermutlich führt es wieder mal zu nichts, sich darüber Gedanken zu machen. Ob etwas gut oder schlecht ist, lässt sich nicht an kosmischen Naturgesetzen festmachen. Dem Universum ist Bach genauso egal wie der erbärmliche Pop-Barde. Die Entscheidung, ob etwas gut oder schlecht ist, hängt ausschließlich vom Entscheider ab. Ohne Entscheider sind die Begriffe inhaltsleer. Damit ließe sich die Diskussion nun beenden. Aber zufrieden bin ich mit diesem Ausgang nicht. Felsenfest und unbelehrbar bin ich weiterhin der Meinung, dass ein Streichquartett von Beethoven nicht in der gleichen Liga mit den getanzten Liebesbekundungen eines 20-Jährigen verglichen werden darf.
Denkt man über die unterschiedlichen Formen von Musik nach, kommt man auf ganz verschiedene Erlebnisebenen. Beim Streichquartett von Beethoven steht die Musik selber im Mittelpunkt. Die Musik wird sitzend genossen, Tanzen wäre eher ungewöhnlich. Mitsummen oder Mitsingen wie auch rhythmische Entäußerungen würden vom eigentlichen Genuss ablenken. Das Aussehen des Cellisten spielt eine untergeordnete Rolle, und auch ein Galgenvogel als erster Geiger würde das musikalische Erlebnis kaum mindern. Die Wirkung eines Nummer-eins-Hits wäre durch solche Begleitumstände jedoch vernichtet. Letztendlich führt die selbstdarstellerische Darbietung auf einem Pop-Konzert zu einer ähnlichen emotionalen Wirkung: zu Verzückung, Trance und Bewunderung. Die reine Musik hat daran allerdings einen deutlich kleineren Anteil. Der knackige Hintern des Sängers, die Lightshow, das Mitsingen seiner Texte und das Gemeinschaftserlebnis werten das Musikstück enorm auf und verhelfen ihm so zu seiner überdimensionalen Strahlkraft.
Beim Verlassen des Konzerts gefragt, würde wohl fast jeder der meist jugendlichen Zuhörer enthusiastisch den musikalischen Wert des eben Gehörten und Erlebten im Olymp des Musikhimmels ansiedeln. Bei erneuter Befragung nach 30 Jahren würde das Urteil vermutlich nur durch die Erinnerung an schöne Zeiten gerettet werden. Würde ich heute versuchen, meinem Sohn zu erklären, dass der längst vergessene Hit Dschingis Khan von Dschingis Khan ein die Generationen überdauerndes musikalisches Meisterwerk wäre, welches mich damals schwer begeistert hatte, hätte ich vermutlich eine schwere Aufgabe vor mir. Da er mit dem Stück nichts verbindet, bleibt die nackte Musik übrig, und die ist zugegebenermaßen dürftig. Spiele ich ihm jedoch die Toccata und Fuge in d-Moll von Bach vor, hätte ich es vermutlich einfacher, ihn in ein anerkennendes Staunen zu versetzen. Diese Musik braucht keine Erinnerung an vergangene Jugend, um zu überzeugen.
So, nun ist mein Hundegang zu Ende. Ich denke, es ist mir wieder einmal gut gelungen, mich von meinem eigenen Standpunkt zu überzeugen. So eine Diskussion ist doch viel angenehmer, wenn nicht dauernd jemand mit einer anderen Meinung stört.